Tolkien hat seine Sprachen als etwas durch und durch Lebendiges erschaffen. Das heißt, dass sie ständigem Wandel und laufender Weiterentwicklung unterlagen, wie im realen Leben auch unsere Sprache. Und Tolkien achtete dabei sogar darauf, dass die Entwicklungen plausibel und nachvollziehbar waren! Jeder Linguist könnte bestätigen, dass die Evolution, die Tolkien seine Sprachen durchleben ließ, bis ins Detail durchdacht und nachvollziehbar war.
Parallel zur Entwicklung der Sprachen ließ Tolkien sich die Schriften entwickeln, er ging dabei sogar soweit, dass man in den Schriften des Dritten Zeitalters noch die Evolution der Sprachen über die Zeitalter hinweg nachvollziehen konnte.
Abgesehen von dem Detailreichtum und der Realitätsnähe sind seine Schriften, insbesondere die Tengwar, atemberaubend schön anzusehen. Diese Ästhetik war es vor allem, die mich zunächst dazu brachte, mich näher mit den Schriften zu befassen, noch bevor ich ahnen konnte, wie viel Liebe zum Detail in ihnen steckte. Zwischenzeitlich bin ich von ihnen genauso gefesselt wie von der Mythologie selbst. Ich habe mir Kalligraphiefüller gekauft (das sind jene mit breiter Feder, mit denen man so richtig kunstvolle Zeichen schreiben, fast schon malen kann). Überall an Türrahmen und Fenstern finden sich bei mir mittlerweile Schriftbänder in Tengwar und vielleicht gelingt es mir, ein wenig von dieser Faszination an euch weiterzugeben.
In diesem Beitrag werde ich einen kurzen Überblick über die fiktive Geschichte der Schriften geben. Eine detailliertere Darstellung der einzelnen Schreibweisen folgt in eigenen Beiträgen.
Erstes Zeitalter
Die Sarati
Das erste Schreibsystem, über das uns berichtet wird, erfand Rúmil, ein Noldor von Tirion. Das war im Jahr 1179 EZ („The Annals of Aman“, in „Morgoths Ring“, HoME Bd. 10).
Sarati wurden in Spalten geschrieben, nicht in Zeilen. Von Tolkien kennt man bis jetzt nur einen einzigen Text, der mit Sarati geschrieben ist.
Interessant ist vielleicht noch zu wissen, dass Tolkien die Sarati so anpasste, dass man mit ihnen auch die Laute seiner Muttersprache, Englisch, wiedergeben konnte. Der angesprochene Text von Tolkien ist in englischer Sprache, aber in Sarati geschrieben. Er stammt aus dem Jahr 1919.
Über die genauen Regeln ist nicht viel bekannt, das meiste Spekulation und wie viele andere warte auch ich sehnsüchtig darauf, dass eines Tages Material veröffentlicht wird, das etwas Licht in das Dunkel um die Sarati bringt. Ich verzichte deshalb an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung.
Informationen über die Sarati finden sich in dem Essay „Quendi and Eldar“ in „The War of the Jewels“, Bd 10 der HoME.
Die Tengwar
Die Schreibweise von Rúmil wurde von Fëanor 1250 überarbeitet, und heraus kamen dabei die Tengwar, die ihr aus der Ringinschrift kennt oder vom Moria-Tor. Die Tengwar bestehen im wesentlichen aus zwei Elementen, Stamm (gerade Linie, telco) und Bogen (lúva).
Einige Beispiele:
Die Form der Buchstaben hat eng mit ihrem Klang zu tun:
Die telcor (Linien) sagten etwas darüber aus, wie der Laut ausgesprochen wurde (Artikulationsweise, zum Beispiel p mit den Lippen und t mit der Zunge gegen den vorderen Gaumen), und die lúvar (Bögen) sagten etwas über verschiedene Artikulationsstellungen aus (z. B. t als Kontrast zu d).
Die Vokale wurden mit Hilfe von Zeichen über den vorangehenden Konsonanten wiedergegeben. Man nennt die Zeichen für die Vokale tehtar (Einzahl tehta). Wenn ein Vokal am Wortanfang stand und somit keinen vorangehenden Konsonanten hatte, half eine senkrechte Linie (sarat) aus, um das tehta zu tragen.
Das Schreibsystem veränderte sich im Lauf der Zeitalter zusammen mit den Sprachen und der Phonologie, doch das Aussehen der Buchstaben als solche blieb. Sie erhielten nur im Lauf der Zeit verschiedene Bedeutungen und Namen, und einige Zeichen fielen bis zum Dritten Zeitalter auch weg, weil es die Laute, für die die Buchstaben standen, nicht mehr gab, oder die Zeichen erhielten einen anderen Wert, standen für andere Laute, die sich aus den ursprünglichen entwickelt hatten.
Der Modus von Beleriand
Im Exil war es den Noldor verboten, Quenya zu benutzen, und sie gingen gezwungermaßen über zu Sindarin, der Sprache des Exils. Sie passten die Tengwar an ihre neue Sprache an.
Allerdings fanden sie die Art der Darstellung der Vokale mit tehtar (den Zeichen über den Konsonanten) unpraktisch und entwickelten für die Vokale eigene Tengwar. Man nennt die entstandene Schreibweise den Modus von Beleriand, und er wurde im Norden Mittelerdes verwendet (Eregion, Mithlond, Imladris). Leider haben wir auch in diesem Modus kaum Texte von Tolkien, doch einen der wenigen werden die meisten von euch kennen: es ist die Inschrift über dem Tor von Moria (nur als optischen Eindruck; eine Erklärung erfolgt hier):
Certhas Daeron
Die Sindar Beleriands entwickelten ein Alphabet für ihre Sprache, dessen Zeichen dafür geeignet waren, in Holz, Stein oder Metall graviert zu werden. Deshalb gab es nur gerade Linien in verschiedenen Winkeln und keine Bögen. Es entstanden runenähnliche Buchstaben, die Cirth (Einzahl Certh) genannt wurden. Das Alphabet trug den Namen Certhas Daeron.
Die Buchstaben bestanden normalerweise aus einer senkrechten Linie (stem) und (meist) rechts angefügten „Zweigen“ (branch). Gegen Ende des ersten Zeitalters erweiterte Daeron aus Doriath das Alphabet der Cirth zu dem Angerthas Daeron.
Zweites Zeitalter
Der Quenya-Modus
Die Phonologie (Lautlehre) der Elbensprachen war nichts Statisches, sondern veränderte sich laufend, und so passte sich auch das Alphabet laufend an. Allerdings ist über die Veränderungen im zweiten Zeitalter nicht allzu viel bekannt. Bei den Tengwar entwickelte sich der sog. Quenya-Modus, der zum Beispiel berücksichtigte, dass aus th ein s geworden war und aus ch am Wortanfang ein h.
Die Angerthas von Eregion
Als die Noldor nach Eregion kamen, benutzten sie auch die Cirth und nannten sie Certar. Sie bauten sie aus, um alle Laute ihrer eigenen Sprache darstellen zu können.
Die Angerthas von Moria
Anfang des zweiten Zeitalters kamen auch die Zwerge in Eregion mit Angerthas in Berührung und modifizierten sie, damit sie zu ihrer Sprache, dem Khuzdul, passten. Die Schreibweise verbreitete sich mit den Zwergen bis Moria (daher der Name). Ein Beispiel dafür finden wir in der Inschrift von Balins Grab:
Nach dem Zweiten Zeitalter waren die Zwerge die einzigen, die noch die Cirth benutzten, sogar auf Papier.
Drittes Zeitalter
Der Quenya-Modus
Dieser Modus hat sich weiterentwickelt zu jener Tengwar-Tafel, die im HdR im Anhang E zu finden ist, eingeteilt in Témar (Spalten) und Tyeller (Zeilen) und insgesamt in zwei Bereiche aufgeteilt: der eine Bereich mit Buchstaben nur aus telco (Stamm) und lúvar (Bögen), der zweite mit 12 zusätzlichen, exotischeren Buchstaben.
Es waren insgesamt 36 Buchstaben und sie waren durchnummeriert. Die Buchstaben wurden (wie auch schon früher) mit Bezeichnungen versehen, in denen der fragliche Laut vorkam, wenn möglich an erster Stelle im Wort.
Dieser Modus wird hier noch ausführlicher! Ein kleines Beispiel hier:
Namárie! Nai hiruvalye Valimar.
(„Lebewohl! Vielleicht wirst du Valinor suchen.“)
Der Modus von Gondor (Sindarin)
Er war stark beeinflusst vom Modus von Beleriand, dem ersten Versuch der Noldor, die Schrift an die Bedürfnisse von Sindarin anzupassen.
Grundlegende Unterschiede zu Quenya:
Statt der Calmatéma (Spalte 3) verwendet der Modus von Gondor die Quessetéma (Spalte 4).
In diesem Modus taucht ein neues Vokalzeichen (tehta) auf für das y, weil dies im Sindarin als Vokal zählt und nicht als Konsonant.
Das Tehta (Zeichen für den Vokal) kommt nicht mehr auf den vorangehenden, sondern auf den nachfolgenden Konsonanten. Das war deshalb sinnvoll, weil Sindarinwörter im Gegensatz zu Quenya häufiger auf Konsonanten endeten und mit Vokalen begannen. So konnte man den häufigen Gebrauch des Trägerzeichens für die Vokale vermeiden.
I amar prestar aen
(„Die Welt ist im Wandel“, Sindarin, erster Satz aus dem Prolog des Peter Jackson-Films)
Der Modus von Arnor
Er taucht in einer der Versionen des Briefs des Königs („King´s Letter“) auf und legt nahe, dass er von den Dunedain des Nordens benutzt worden war und mit Aragorns Thronbesteigung nach Gondor kam. Er entwickelte sich aus dem Modus von Beleriand.
Der Modus von Westron („Numenian Mode“)
Er muss eine Entwicklung aus dem Andunaischen sein und wurde in einer besonderen Version von Sauron für die Ringinschrift benutzt. Die Zeichen sind dieselben Tengwar wie immer, aber sie haben andere (Westron-)Namen. Von diesem Modus gibt es auch eine nördlichere Variante.
Angerthas Erebor
Nachdem die Zwerge aus Moria vertrieben worden waren, wanderten einige nach Erebor aus. Dort entwickelten sich die Cirth weiter zu diesem Modus. Es ist auch der, in dem das Buch von Mazarbul geschrieben ist. Der Modus enthält einige neue Cirth für Vokalkombinationen und Diphthonge.
Das war ein wirklich nur ganz kleiner Einblick in die Vielfalt der Schriften Ardas.
Zu den wichtigen Schriften insbesondere des Dritten Zeitalters folgen weitere, eigene Abhandlungen mit Beispielen und Erläuterungen!