Oder was bewog Tolkien sein Leben lang, diese Geschichte zu schreiben?
Tolkien schuf in seinem Fantasyepos eine große, sehr komplexe Welt, die an Ideenreichtum und Vielfalt kaum zu überbieten ist. Nicht umsonst ist „Der Herr der Ringe“ das meistverkaufte Buch nach der Bibel und zieht Millionen von Lesern auf der ganzen Welt in ihren Bann. Wie kann sich ein Mensch nur so eine Welt ausdenken, von der Schöpfung der Welt über die Geschichte einzelner Völker bis hin zu großen Kriegen und Schlachten, das Herauskristallisieren von Helden, u. v. m.
J.R.R. wurde in seinem Leben von vielen Faktoren berührt, die mit in seinen Mythos Mittelerde, sei es nun bewusst oder unbewusst, mit eingeflossen sind.
Die meisten Fantasygeschichten haben keine Wurzeln in unserer Wirklichkeit. Tolkiens Welt dagegen beruht auf Fakten:
Die Wurzeln
Die Anfänge der Idee von seiner Welt liegen in Sarehole, einem kleinen, ländlichen Dorf in der Nähe von Birmingham. Im Alter von 4 Jahren verbrachte er dort seine Kindheit und Jugend (er lebte dort bis 1900, bis er wieder mit seiner Familie nach Birmingham zog). Die friedliche Landschaft im Umfeld dieses abgeschiedenen Dorfes spielte eine entscheidende Rolle in der Prägung des jungen Tolkien. Er entwickelte nicht nur eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, sondern auch das Gefühl, für ihren Schutz verantwortlich zu sein. Diese Gegend war eine tolle Umgebung für Kinderabenteuer und Phantasie.
So finden sich Zusammenhänge zwischen Tolkiens Leben in Sarehole und seinen Büchern. Die Landschaft um das Dorf inspirierte ihn bei der Gestaltung von Hobbingen und dem ganzen Auenland. Die Hobbits, ein einfaches, agrikulturell orientiertes Volk, sind die Bewohner des Auenlandes und erinnern in ihrer Mentalität und Lebensweise sehr stark der damaligen Bevölkerung Sareholes. Sie sind Landmenschen, Bauern, und ihnen ist es nicht wichtig, was anderswo in der Welt passiert. Sie sind ein genügsames und geselliges Volk, das gutes Essen, und große Feiern liebt. Tolkien liebte diese Menschen und spiegelte sie in seiner Welt in dem Volk der Hobbits wieder.
Er zeigt dem Leser mit dem Auenland eine idyllische, erhaltenswerte Welt, so wie er es in seiner Kind- und Jugendzeit selbst erlebt hat.
Doch diese Idylle hielt nicht für immer in Tolkiens Leben; er wurde im Zeitalter der Industrialisierung groß und erlebte, wie sich die Fabriken, Eisenbahnen und Kraftwerke immer mehr von Birmingham in Richtung der umliegenden Gebiete – so auch Sarehole – ausbreiteten und das Land mit einem grauen Schleier und Lärm überzogen wurde. Seine geliebte Natur musste den Baggern weichen, die Kohle für die Deckung des enormen Energiebedarfs der Stahlindustrie abbauten und so weite Landstriche verwüsteten. Es gab nicht genügend Arbeiter in der Bevölkerung, und somit wurden Kinder zum Arbeiten in die Fabrik geschickt. Tolkien war sehr traurig über diese gesamte Entwicklung. Die Kontraste zw. der ländlichen und der von der Industrie dominierten Welt erscheinen wiederum in seiner erdachten Welt. Die heile Welt wird von den bösen Mächten (Sauron und seine dunklen Armeen) angegriffen.
Angeln und Sachsen
Tolkien sagte: Ich habe Mittelerde nicht erfunden, sondern wieder entdeckt!, denn er ließ sich u.a. inspirieren von der englischen und skandinavischen Geschichte, den Bräuchen und den Sprachen des frühen Mittelalters. Tolkien wurde sehr stark von der Geschichte und besonders der Sprache der Angelsachsen beeinflusst, die Wurzel der Anglikanischen Sprachen, aus der sich später auch das Englisch entwickelte. In der Zeit des fünften Jahrhunderts kamen die Angeln und Sachsen mit ihren Schiffen nach Europa und ließen sich im fünften und sechsten Jahrhundert in England nieder, wurden sesshaft und entwickelten ihre eigene Kultur. Der Großteil des Volkes konnte weder Lesen noch Schreiben. Somit wurden die Geschichten und Heldentaten als Lieder gesungen und erzählt und so an kommende Generationen weitergegeben. Im elften Jahrhundert eroberten die Normannen die Insel; die erzählerische Tradition der Angelsachsen verschwand, und dadurch gingen die Mythen und Sagen aus dieser Zeit verloren und gerieten in Vergessenheit. Tolkien empfand den Verlust der überlieferten Geschichten als Zerstörung der Wurzeln des englischen Volkes. Dies inspirierte ihn, eine neue englische Mythologie zu schreiben, um so Großbritannien eine neue nationale Identität zu geben. Dieser Gedanke war der eigentliche Grundstein für die Entstehung Ardas bzw. Mittelerde.
Eine der wichtigsten Quellen bei der Erschaffung seiner „Legende“ war das Gedicht „Beowulf“, eine alte angelsächsische Heldensage. Sie handelt von einem nordischen König, der stirbt, als er gegen einen Drachen kämpft. Zuvor hatte noch kein Anderer versucht, gegen diesen Drachen zu kämpfen. Eine wunderbar ausgeschmückte Szene in dem Gedicht ist die Beschreibung der Seebestattung des gefallenen Königs, der einsam in seinem Schiff, voll beladen mit Schätzen aufs Meer hinaustreibt (eine vergleichbare Parallele findet man in „Der Herr der Ringe“, als der gefallene Boromir ebenfalls durch eine Seebestattung in die Welt der Toten einfährt). Die Geschichte Beowulfs galt Jahrhunderte lang nur als Legende, aber 1939 fanden Archäologen in Sutton-Hoo ein altes Schiff, das als Grabstätte eines angelsächsischen Königs diente. Tolkien hatte sicherlich von dieser Entdeckung gewusst, als er 1939, kurze Zeit nach dieser Entdeckung, seine Arbeit an „Der Herr der Ringe“ begann, und ließ sich davon und von der frühen angelsächsischen Geschichte inspirieren.
Das Kalevala
Den ohne Zweifel größten Part in Tolkiens Welt spielt das Volk der Elben. Sie waren auch seine liebsten Geschöpfe, und er investierte viel Zeit und Liebe, um dieses zauberhafte Volk zu erschaffen. Tolkien erschuf eine wunderbar detaillierte Welt, er entwickelte sogar ganze elbische Sprachen mit anwendbarer Grammatik, Aussprache, ja sogar eigene Schriften und Schriftzeichen.
Eine der Hauptinspirationsquellen Tolkiens für sein Elbisch war eine Sprache, die in Karelien, eine abgeschiedene Region zwischen Finnland und Russland gesprochen wird. Das Alte Lied, das hier gespielt wird, ist das „Kalevala„, das Land der Helden. Ein großes Werk, und eines der größten Kulturgüter Finnlands. Tolkien begeisterte sich schon in seiner Jugend für das Kalevala. Er lernte autodidaktisch die finnische Sprache, um das Werk lesen und verstehen zu können. Das Kalevala spiegelt die Geschichte der Finnen wieder, die am Ende der letzten Eiszeit vor ca. 15000 Jahren nach Norden wandern. Sie wurde von Generation zu Generation durch mündliche Überlieferung weitergegeben.
Die Tradition des Kalevala ging fast verloren, als die Schweden gegen Ende des Mittelalters in Finnland einfielen. Im 19. Jahrhundert sprachen bereits die meisten gebildeten Finnen Schwedisch. 1830 reiste ein Landarzt namens Elijas Langroth nach Karelien; es war der letzte Ort, an dem die Lieder noch gesungen wurden. Er schrieb die Texte der Karelier auf und rettete so die Tradition. Er strukturierte die Texte und formte eine Geschichte daraus, die er „Kalevala“ nannte. Diese Mythologie gab den Finnen wieder eine eigene Identität. Denn ohne das Kalevala hätte Finnland keine eigene Sprache und Tradition mehr.
Tolkien ließ sich von genau dieser alten finnischen Sprachen inspirieren, als er die Elbensprachen entwickelte, denn seine Sprachen sollten eine ähnliche Struktur haben. Quenya ist an stärksten an die finnische Sprache angelehnt. Neben der Sprache fand Tolkien im Kalevala auch viele Anregungen für die Charaktere seiner Geschichte. Der Held des Kalevala z.B. ist ein alter Zauberer, Väinamöinen, ein weiser Schamane, der seinem Volk ein besseres Leben ermöglichen wollte. Daraus entwickelte Tolkien Gandalf, den Zauberer. Gandalfs Aussehen allerdings hat einen anderen Ursprung: Bevor Tolkien 1911 in Oxford das Studium der englischen Literatur und Sprache aufnahm, unternahm eine Reise in die Schweiz. Als bedeutungsvoll sollte sich der Kauf einer Ansichtskarte erweisen, die die Reproduktion des Bildes „Der Berggeist“ (entstanden zw. 1925 und 1930) des deutschen Malers Josef Madlener darstellte. Das Bild zeigte einen alten Mann mit langem weißem Bart, der einen runden, breitkrempigen Hut und einen langen Mantel trägt (siehe Illustration rechts). Tolkien versah die Postkarte später mit dem Hinweis „Gandalfs Ursprung“.
Das Kalevala und „Der Herr der Ringe“ haben noch etwas wichtiges gemeinsam: in beiden Geschichten steht ein wichtiger Gegenstand im Mittelpunkt. In der finnischen Sage heißt er Sampo, im HdR ist es „Der Eine Ring“. In beiden Fällen bringt der Ring Glück (zumindest erscheint es dem jeweiligen Besitzer so), muss aber am Ende des Friedens Willen zerstört werden. Das Kalevala steht wie alle großen Mythologien für den Kampf zwischen Gut und Böse.30
Der Erste Weltkrieg
Die Zeit des Ersten Weltkriegs ab 1914 beeinflusste Tolkiens Geschichte. Im Juni 1916 waren Tolkien (als Meldeoffizier) und die meisten seiner Studienkameraden an die Front an der Somme geschickt worden, um den Kampf gegen den großen Feind zu kämpfen. Er erlebte dort die grauenhafte Realität des Schlachtfeldes. In dieser schrecklichen Zeit voller Angst und Tod schrieb Tolkien mit Bleistift die ersten Zeilen seiner Geschichte von Mittelerde in sein Notizbuch, das er bei sich trug.
Die stark klassenorientierte Hierarchie der englischen Truppen war in er Zeit des Krieges direkt an der Front fast aufgehoben. Offiziere kamen von der Universität, wie Tolkien, die ungebildeten Männer (z.B. Bergarbeiter und Weber) bildeten die Infanterie. In „Der Herr der Ringe“ gibt es ebenfalls eine deutlich erkennbare Verschmelzung der Standesunterschiede im Laufe der Geschichte: Frodo, ein gebildeter, mittelständischer Hobbit, und sein Gärtner/Diener Sam ziehen gemeinsam los, um ihr Auenland zu retten. Im Laufe der Geschichte spielen diese Standesunterschiede fast keine Rolle mehr. Tolkien selbst sagte, dass Frodo und Sam das gleiche verband wie die Truppen und Offiziere: Der Krieg bzw. die Extremsituationen, denen sie ausgesetzt sind.
Der Krieg und seine tiefe Bindung zu seinen Kriegskameraden prägte Tolkiens Geschichte mehr als sich anfangs vielleicht vermuten lässt:
Die Truppen, als auch die Gefährten, zogen nachts weiter, da die Chance, vom Feind entdeckt zu werden geringer war als tagsüber. Der Himmel an der Front war voll von Feuer und erstickendem Staub, der die Sonne verdunkelte wie der Schicksalsberg in Mordor, der unentwegt Feuer und Asche spie und um sich herum nichts mehr gedeihen ließ. Tolkien ging der Krieg an der Somme sehr nahe; am ersten Tag an der Front fanden 19.000 britische Soldaten den Tod, 38.000 wurden verletzt. Am schlimmsten war für Tolkien aber der Tod einer seiner engsten Jugendfreunde. In der ganzen Zeit entwickelte und schrieb er die Geschichte Ardas weiter und versuchte, das Erlebte darin, sei es nun bewusst oder unterbewusst, zu verarbeiten.
Der Zweite Weltkrieg
Tolkien begann in der Zeit des Zweiten Weltkrieges mit dem Schreiben am Herrn der Ringe, eine Zeit, in der sein Sohn Christopher in den Krieg ziehen musste; für J.R.R. war diese Zeit fast unerträglich, und umso beeindruckender, dass er an seinem Buch weiter schrieb; sicher nicht unberührt von den damaligen aktuellen Ereignissen. Im Krieg waren die ganz normalen Menschen diejenigen, die die wahren Heldentaten vollbrachten. Diese Tatsache lässt leicht darauf schließen, dass er deswegen die „unscheinbaren“ Hobbits auswählte, die Mittelerde vor dem abgrundtief Bösen (Hitler und die Nazis) befreien sollen.
Aber diese Interpretation dementierte Tolkien selbst aufs Äußerste, er verabscheute solche modernen Interpretationen seiner Bücher. Sein Buch hatte NICHTS mit dem Krieg oder Hitler zu tun. Er ließ seine Welt aus seiner Fantasie, seinen Erinnerungen und seine Kenntnissen aus der ihm bekannten Mythologie entstehen, nicht aus den aktuellen Ereignissen wie z.B. dem Zweiten Weltkrieg.
Nachwort
Meiner Meinung nach ist Mittelerde ein mythischer Ort, der jedoch seinen Ursprung in der realen Welt hat. Auch wenn es eine fantastische Geschichte ist, lässt es sich nicht abstreiten, dass es viele Einflüsse gab, die Tolkien beim Schreiben seiner Bücher beeinflusste.
Er wollte uns zeigen, dass ein Einziger das Schicksal Vieler bestimmen und Konflikte lösen kann; wir alle könnten sein wie Frodo, der es schafft in Begleitung seiner Gefährten die Welt von dem drohenden Unheil abzuwenden. Viele Menschen wollen eine friedliche gerechte Welt ohne Kriege und Konflikte, aber wer von uns erklärt sich dazu bereit, den Ring bis zum Ende zu tragen?