Inhaltsverzeichnis

Übersicht

Die Dokumentation stützt sich auf BBC-Interviews mit J.R.R. Tolkien und seinem Sohn Christopher Tolkien (mit Genehmigung von Tolkien Estate). In der Sendung kommen außerdem Leo Carruthers, Professor für englische Sprache, Literatur und Zivilisation an der Pariser Sorbonne, die Literaturwissenschaftlerin Anne Besson sowie der Historiker Hans Ulrich Jost zu Wort.

Mittelerde mit seinen Hobbits, Festungen und Elbenwäldern scheint Abermillionen Kilometer von der modernen Welt entfernt. Doch entsprang diese so andere Welt dem Geist eines Mannes, der fast sein gesamtes Leben mitten in England verbrachte – in Oxford. Heute ist die Stadt untrennbar mit seinem Erbe verbunden. Als John Ronald Reuel Tolkien 1911 zum Studium nach Oxford kam, lagen bereits sehr unterschiedliche Lebensphasen hinter ihm. Er wurde 1892 als Sohn englischer Eltern in Südafrika geboren. Sein Vater, ein Bankmanager, starb, während Ronald im Alter von drei Jahren mit seiner Mutter und seinem Bruder gerade England besuchte. Das bäuerlich-englische Dorf, in dem die Familie danach vier Jahre lang lebte, lieferte die Inspiration für das idyllische Auenland der Hobbits – den kleinen Wesen mit den haarigen Plattfüßen und dem ausgeprägten Hang zur Gemütlichkeit. Als Tolkien acht Jahre alt war, zog die Familie in die nahe Industriemetropole Birmingham. Nach dem Tod der Mutter 1904 lebte er in verschiedenen Pensionen.

Von Oxford nach Mittelerde

Als Tolkien mit 19 von Birmingham wegzog, um auf das mittelalterliche Exeter College in Oxford zu gehen, muss es ihm wie das Paradies erschienen sein. Zudem traf er Edith Bratt wieder – ein Mädchen, in das sich der junge Ronald (so sein Spitzname) bereits mit 17 verliebt hatte, zu der ihm jedoch sein Vormund den Kontakt verboten hatte. In Oxford begann Tolkien, Altenglisch und Altnordisch zu studieren, und entdeckte die Heldenepen von Beowulf und Sigurd, die seine Fantasie beflügelten. Ein Buch über finnische Grammatik aus der Bibliothek des Exeter Colleges sollte Tolkiens Leben verändern. Er fand die Sprache so wunderbar, dass er 1914 begann, in Anlehnung an sie eine neue Sprache zu erfinden. Und er beschloss, dieser neuen Sprache eine Heimstatt zu geben. Lange bevor Quenya, die Hochsprache der Elben, mit „Der Hobbit“ Berühmtheit erlangte, entstand Mittelerde – eine immense Fantasiewelt, die Schauplatz von Tolkiens Romanen wurde und mit der der Autor literarische Maßstäbe setzte. Viele Orte in den Erzählungen scheinen direkt der Idylle Oxfords zu entspringen.

Schützengraben und Hochzeit

Tolkiens Studien wurden durch den Ersten Weltkrieg überschattet. 1918 kehrte er nach Oxford zurück – inzwischen hatte er 1916 Edith Bratt geheiratet, vier Monate an der Westfront gedient, dort enge Freunde verloren, war an Schützengrabenfieber erkrankt und 1917 Vater geworden. Bei seiner neuen Arbeit, die in der Zusammenstellung von Etymologien für das Oxford English Dictionary bestand, beschäftigte er sich eingehend mit Zivilisationsgeschichte. Seine Arbeitsstätte unweit des Exeter Colleges beherbergt heute das Museum of the History of Science. Gegenüber befindet sich die Blackwell-Buchhandlung, in der es heute unzählige Bücher von und über Tolkien zu erstehen gibt. Von hier gelangt man, vorbei am architektonisch imposanten Sheldonian Theatre, der Old Bodleian Library und dem Rundbau der Radcliffe Camera, zur High Street und dem Gebäude der Examination Schools, wo Tolkien ab 1925 lehrte und mit 32 Jahren den Lehrstuhl für Englische Philologie übernahm. Noch heute setzen sich hier Lehrkräfte und Studenten mit Tolkiens Interpretationen der mittelalterlichen Literatur auseinander.

Mit Fahrrad und Pfeife

Der Schriftsteller Simon Tolkien erinnert sich beim Gespräch an die Geschichten, die ihm sein Großvater von seinen Fahrradfahrten zur Universität und nach Hause in eine nördliche Vorstadt von Oxford erzählte: „Er radelte immer durch Oxford und rauchte dabei Pfeife. Aber er inhalierte nur hin und wieder, wenn ihm der Wind an einem stürmischen Tag entgegenblies und keine Wahl ließ. Die Pfeife war sein ständiger Begleiter.“ In der Northmoor Road schrieb Tolkien nicht nur „Der Hobbit“ und begann „Der Herr der Ringe“, er ersann auch viele Geschichten für seine vier Kinder John, Michael, Christopher und Priscilla und schrieb ihnen herrliche „Briefe vom Weihnachtsmann“. Christopher lauschte den dunkleren, tiefgründigeren Erzählungen der Altvorderenzeit von Mittelerde, die Tolkien aus der Feder flossen und die er mittlerweile „Das Silmarillion“ getauft hatte. Er brachte auch Arbeiten zur Korrektur mit nach Hause. Eines Tages, um das Jahr 1930, schrieb der gelangweilte Professor auf eine leere Seite in der Prüfungsarbeit eines Studenten: „In einem Erdloch lebte ein Hobbit.“ Es war der erste Satz des Romans, der ihn berühmt machen sollte. Doch diese Geschichte hätte der vielbeschäftigte Tolkien ohne einen Kollegen und Freund möglicherweise nie vollendet. C. S. Lewis, Autor der Fantasy-Erfolgsromane „Die Chroniken von Narnia“, erkannte die geniale Einzigartigkeit des „Hobbits“ und drängte Tolkien, weiter daran zu arbeiten, bis das Werk schließlich veröffentlicht – und sofort zum Klassiker wurde. Fans von Tolkien und Lewis zieht es heute häufig zum „Eagle and Child“ in der St. Giles’ Street. In diesem Pub veranstalteten gesprächige – und trinkfeste – Literaten zwanglose Diskussionsrunden, sie nannten sich „Inklings“ (wörtlich: Tintenkleckser). Die Wände ihres einstigen Lieblingsraums zieren heute allerlei Memorabilien.

Kultautor in der Garage

Ab 1945 arbeitete Tolkien am Merton College als Professor für Englische Sprache und Literatur, mit 750 Jahren eines der ältesten in Oxford. Hier saß Tolkien gern auf dem Rasen, der sich bis zur mittelalterlichen Stadtmauer erstreckt. Seine Lehrstätte, Fellows’ Quad, erinnert an einen Hof von Mittelerde. Nach der Pensionierung zogen Ronald und Edith nach Sandfield, einen Vorort von Oxford. Da sie kein Auto hatten, funktionierten sie die Garage zum Büro um, in dem sich Tolkien mühte, seine vielen unvollendeten Mythologiegeschichten zu ordnen. Als dann aber im Zuge des unerwarteten Erfolgs von „Der Herr der Ringe“ Fremde an die Tür zu klopfen begannen, zog das Ehepaar an die Südküste in den Badeort Bournemouth, um sich etwas Privatsphäre zu bewahren. Aber Tolkien vermisste Oxford, und nach Ediths Tod 1971 kehrte er zurück und bezog eine Wohnung seines ehemaligen Colleges in der Merton Street. Simon Tolkien erinnert sich: „Ich sehe noch das Sofa gegenüber dem Kamin und Berge von Manuskripten, spüre seine Frustration über sein Alter und dass ‚Das Silmarillion‘ noch nicht veröffentlicht war – dieses Gefühl eines unvollendeten Werks.“ Dennoch und trotz seiner tiefen Trauer um Edith, so sein Enkel, „schien er das Leben zu genießen und war wohl sehr froh, wieder in Oxford zu sein.“

Die Geschichte einer Liebe

Tolkien starb 1973 und ruht seither neben seiner Frau Edith auf dem Friedhof von Wolvercote nördlich der Stadt. Seine 1914 und 1915 in Oxford entstandenen Geschichten erschienen schließlich 1977 in einer von seinem Sohn Christopher bearbeiteten Fassung mit dem Titel „Das Silmarillion“. So erfuhren die Leser nun die ganze Liebesgeschichte, die in „Der Herr der Ringe“ nur am Rande eine Rolle spielt: die Liebe des sterblichen Beren zu der Elbenmaid Lúthien. Die ursprüngliche Liebesgeschichte aber, die Tolkien als Anregung diente, ereignete sich lange vor dem Erscheinen von „Der Herr der Ringe“ – bei der Wiederbegegnung zwischen Ronald und Edith nach den schrecklichen Kriegsereignissen an der Somme. Auf dem Grabstein stehen neben ihren beiden Namen auch die von Beren und Lúthien. Und vielleicht kann man an diesem Ort und beim Spaziergang durch Oxford gar einen Hauch Mittelerde verspüren.